05.12.2023
Zähes Warten auf den Gong?! Das Phänomen der Schülerlangeweile und Konsequenzen für eine adaptive Unterrichtsgestaltung
Prof. Dr. Kristina Kögler und OStD Marc van Bergen
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Kurzbericht
Frau Prof. Kögler und Herr van Bergen bauten Ihren Impuls dialogisch in vier Kapiteln auf: Herr van Bergen gab praxisbezogene Fragen und Erfahrungen aus der Sicht des Schulleiters vor. Frau Prof. Kögler antwortete darauf mit deren Einordnung in interessante Studienergebnisse und wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Im ersten Kapitel beleuchtete Prof. Kögler das komplexe Konstrukt der Langeweile zunächst genauer und machte die Notwendigkeit einer Definition deutlich. Als definitorischen Minimalkonsens lasse sich erstens die subjektive Zeitdehnung („die Zeit vergeht ja heute überhaupt nicht“) und zweitens eine verhältnismäßig negative emotionale Valenz festhalten. In Bezug auf den Aktivierungsgrad (Arousal) könne Langeweile drittens sowohl bei hohem als auch bei niedrigem Arousal auftreten, sich also sowohl als Unruhe als auch als Lähmung zeigen.
Als Emotion definiert, lasse sich Langeweile wie jede Emotion in affektive, kognitive, physiologische, expressive und motivationale Komponenten aufteilen. In der Forschung wurden verschiedene Formen schulischer Langeweile festgehalten:
- Indifferente Langeweile: inaktiv-hinnehmende Langeweile mit schwach negativer Valenz und geringem Arousal, „Abschalten“, „Desinteresse“, „Amotivation“, „Gedankenleere“
- Kalibrierende Langeweile: die sich Langweilenden bleiben zwar weitgehend inaktiv, sind aber grundsätzlich offen für Neues
- Zielsuchende Langeweile: von Ruhelosigkeit und der konkreten Suche nach Handlungsalternativen geprägt
- Reaktante Langeweile: steht phänomenologisch Ärger, Aggression und Hilflosigkeit am nächsten, wird von Lernenden insbesondere mit quälenden Gedanken an subjektiv lohnenswertere Tätigkeiten und Aggression in Verbindung gebracht
- *Apathische Langeweile: sehr niedriges Arousal, hohe negative Valenz.
Im zweiten Teil des wissenschaftlichen Inputs beleuchtete Prof. Kögler sowohl die situativen als auch die personenbezogenen Entstehungsbedingungen von Langeweile. Ein kurzer Überblick über grundlegende Erklärungsansätze zur Entstehung von Langeweile wurde ausgewählten Theorien und Modellen schulischer Langeweile vorangestellt. Prof. Kögler stellte den aktuell dominierenden Erklärungsansatz der Emotionsgenese, die sog. Appraisaltheorien, kurz vor. Diese gehen davon aus, dass Emotionen durch Wahrnehmungen und Bewertungen von Situationen durch Individuen bestimmt werden, wie subjektiven Kontroll- und Wertüberzeugungen als Bedingung von Lern- und Leistungsemotionen. Sowohl ein hohes Kontrollempfinden in der Situation als auch die Wertschätzung einer Situation oder Aufgabe, so die zentralen Annahmen dieser Theorie, führten zu weniger Langeweile. Forschungsbefunde unterstreichen diese Annahmen.
Um potenzielle Verhaltensweisen von Lernenden bei Langeweile zu verstehen, beleuchtete Prof. Kögler im dritten Teil des Vortrags Formen des Emotionscopings. Sie unterschied dabei zwischen problemorientiertem, emotionalorientiertem und meidensorientiertem Coping, wobei das erste aus pädagogischer Sicht das wünschenswerteste sei.
Um die besonders praxisrelevante Frage zu klären, ob Langeweile schädlich für den Lernerfolg sei, stellte Prof. Kögler einige Erkenntnisse zur Wirkung von Langeweile auf leistungsrelevante Aktivitäten vor: Während ein Performanzrückgang bei monotonen Aufgaben eindeutig auszumachen sei, gäbe es zum Zusammenhang von Langeweile und Lernergebnissen widersprüchliche Befunde. Gleiches gelte auch für den Zusammenhang von Langeweile und außerunterrichtlichen Lernaktivitäten.
In einem kurzen Zwischenfazit betonte Prof. Kögler die Komplexität und Omnipräsenz der Emotion „Langeweile“ sowie die Relevanz der situativen Wahrnehmung von Lernenden für deren Entstehung.
Im vierten und letzten Teil verknüpfte Prof. Kögler die vorgestellten Befunde mit der Unterrichtsgestaltung anhand praxisnaher Hinweise zu Möglichkeiten der Einflussnahme auf Kontroll- und Wertkognitionen, der Unterstützung bei der Regulation von Emotionen als auch der Vermittlung lernförderlicher Überzeugungen. Da Langeweile sowohl innerhalb eines Lernenden als auch zwischen Lernenden stark variiere, könne insbesondere technologisch unterstützte, formative Diagnostik adaptiven Unterricht prozessnah unterstützen und der situativen Fluktuation von Kontroll-Wert-Appraisals und Langeweile individuell gerecht werden.
Diskussion
- Folgende Diskussionsimpulse leiteten zum Austausch über:
- Was sind die größten Herausforderungen im Umgang mit Langeweile?
- Stellt sich das Phänomen Langeweile in unterschiedlichen Schularten und/oder Lehr-/Lern-Situationen ähnlich dar oder gibt es Unterschiede?
- Wollen und können wir Langeweile im Unterricht vermeiden?
- Zur Sanktionierung von Langeweile: Da Unterricht kein selbstgewähltes Schicksal sei, liege die Verantwortung eher
auf der Angebotsseite, so Prof. Kögler. Um innere Emigration oder generalisierende negative Emotionen zu vermeiden, sollte
Sanktionieren durch das Ergründen der Ursachen ersetzt werden.
- Aus der Praxis wurde berichtet, dass die Reaktion mit (Zusatz-)Angeboten auf Langeweile die Herausforderung berge, im Anschluss alle Lernenden erneut zu einer gemeinsamen Phase zusammenzubringen. Es wurde daher die Frage diskutiert, wie eine Phase der Individualisierung beendet werden könne, ohne die daraus gewonnene Motivation erneut zu brechen. Hierbei rieten die Experten vor allem zum Ausprobieren verschiedener Methoden und, zum Vorteil sowohl der Lernenden als auch der Lehrkraft, zum Aufbau von Routinen in den Phasen des Zusammenführens.