27.10.2022
Migrant*innen in Schule und Bildungsforschung: "Die (Un-)Sichtbaren"?
Daniela Krämer (IBBW), Elisabeth Rangosch-Schneck (Migrant*innen machen Schule e.V.), Prof.‘in Dr. Dominique Rauch (PH Ludwigsburg) & Dr. Anne-Kathrin Will (Humboldt Universität Berlin)
Präsentation Migrant*innen in Schule und Bildungsforschung: "Die (Un-)Sichtbaren"? (pdf 4,9 MB) von Elisabeth Rangosch-Schneck (Migrant*innen machen Schule e.V.)
Beitrag (pdf 2,2 MB) von Dr. Anne-Kathrin Will (Humboldt Universität Berlin)
Beitrag (pdf 1 MB) von Prof. Dr. Dominique Rauch (PH Ludwigsburg)
Beitrag (pdf) von Daniela Krämer (Institut für Bildungsanalysen). Die Verwendung wird mit Quellenangabe eingeräumt.
Kurzbericht
Ausgehend von im Vorfeld gesammelten Fragen und Beiträgen von Personen aus der Praxis wurden in dieser Veranstaltung zunächst die seit Juni auf einem Online-Bord gesammelten Problemstellungen zu diesem Thema unter sechs Fragestellungen veranschaulicht. In den drei Impulsen aus der Bildungsforschung wurden dann verschiedene Perspektiven und Arbeitsfelder dazu in Beziehung gebracht. 66 Personen haben an der Veranstaltung teilgenommen.
Beitrag von Frau Rangosch-Schneck
In ihrem Beitrag hinterfragte Frau Rangosch-Schneck die Repräsentanz von Migrantinnen und Migranten in Studien der
Bildungsforschung: Wer partizipiert an Panels oder Onlinebefragungen? Sind migrantische Kinder und Jugendliche z.B. in den Stichproben
einer Schülerbefragung angemessen enthalten?
In ihrer Präsentation wies Frau Rangosch-Schneck zunächst auf die Darstellung von Migrantinnen und Migranten in den Medien, auch
im Kontext von Ergebnissen der Bildungsforschung, hin. So erscheinen migrantische Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern oft
als unterstützungsbedürftig, „herausfordernd“ und belastend („Othering“).
Exemplarisch wurde die begrenzte Repräsentativität von Studien veranschaulicht und durch kritische Anmerkungen aus der
empirischen Forschung selbst ergänzt. Hier wurde die Frage nach dem „Problembewusstsein“, sowohl der Forschenden, als auch
der Beforschten und Nutzenden der Praxis, gestellt.
Mit dem Fokus auf „Sprache“ wurde zum einen auf die unterschiedliche Operationalisierung dieses Merkmals und auf die
unterschiedlichen Wege seiner Erhebung hingewiesen, zum anderen wurden die Kenntnisse der deutschen (Bildungs-)Sprache als ein
„Maß der Evidenz“ problematisiert.
Die Frage „Wer braucht wissenschaftliches Wissen?“ thematisierte Verwendungszusammenhänge und ihre Bedingungen: die
Nicht-Bereitstellung von Daten, eingeschränkte Data Literacy bei den Nutzenden, begrenzte institutionelle Forschungsmöglichkeiten
und -interessen usw.
Den Abschluss bildete die Frage: „Was wäre möglicherweise anders, wenn migrantische Akteure sichtbar auf allen Ebenen und
in allen Phasen beteiligt wären?“
Damit verband sich auch die Einladung zur Mitwirkung an den 2023 geplanten Online-Werkstätten zur vertiefenden Arbeit an Einzelfragen: In diesen Werkstätten, koordiniert von „Migrant*innen machen Schule e.V.“ sollen Beteiligte aus Praxis und Wissenschaft ihre Perspektiven zu einer konkreten Fragestellung einbringen und lösungsorientiert diskutieren. Im Februar 2023 geplant ist das Thema „(Un)Möglichkeiten der Selbstartikulation migrantischer Kinder, Jugendlicher und Eltern in Befragungen“.
Beitrag von Frau Dr. Will
Frau Dr. Will stellte in ihrem Beitrag klar, dass spezifische Bezeichnungen oder Ausdrücke, wie z.B. „mit
Migrationshintergrund“ ein semiotisches Gewicht haben und als Markierungen der Betroffenen fungieren. Durch diese Schwere des
Gewichts würden sich Markierungen in den Vordergrund des gesellschaftlichen Diskurses drängen. Neben Markierungen existiere aber
auch gleichzeitig unausgesprochen die unmarkierte Norm. Beim Beispiel des Migrationshintergrunds, sei das die vermeintlich typische
deutsche Person. Diese Norm werde dann nicht explizit genannt, denn sie verstehe sich als gesellschaftlicher Konsens. Sie zieht das Fazit,
dass es in der Gesellschaft eine deutlichere Sensibilität für Markierungen und Normalisierungen geben müsste. Außerdem
plädiert sie für das sogenannte normalisierte Markieren. Das könne der berufstätige Vater oder die Schülerin ohne
Migrationshintergrund sein. Das differenziertere Abbilden ermögliche zielgerichtetere Aussagen als die Kategorie
„Migrationshintergrund“, die sie für ungeeignet hält für die Zielgruppenbestimmung im Sinne von passender
Förderung.
Am Beispiel des Bildungstrends und IQB-Ländervergleichsstudien zeigte sie auch, dass Lernende von der Teilnahme ausgeschlossen werden,
wenn sie bestimmten Kriterien unterliegen, z.B. wenn ein Schüler oder eine Schülerin nichtdeutscher Herkunftssprache ist und
weniger als ein Jahr in deutscher Sprache unterrichtet wurde und somit nicht in der Lage ist, Deutsch zu lesen oder zu sprechen. Daraus
schlussfolgerte sie, dass gerade die Schwächsten in groß angelegten Studien nicht adäquat repräsentiert würden und
daraus Datenlücken entstünden.
Beitrag von Prof.‘in Dr. Rauch
Für ihren Vortrag zog Frau Prof.‘in Dr. Rauch die langjährigen Studien „Schulischer Wandel in der
Migrationsgesellschaft – Schulkultur(en) im Kontext aktueller Fluchtmigration“ und „meRLe – Förderung der
Deutsch-Lesekompetenz durch mehrsprachigkeitssensibles Reziprokes Lehren im Grundschulunterricht“ heran. Sie gab dabei den
Teilnehmenden einen Einblick, wie und unter welchen Rahmenbedingungen sie an der Hochschule Bildungsforschung betreibt, wie Ergebnisse
kommuniziert würden. Bei ihren Themen spiele es eine große Rolle, dass mehrsprachige Menschen gezielt sichtbar gemacht
würden.
Frau Prof.‘in Dr. Rauch betonte, wie aufwendig es sei, diese Daten zu erheben. Sowohl quantitative Verfahren wie Fragebogen und Tests
als auch qualitative wie video- und audiographierte Interviews würden zum Einsatz kommen und ausgewertet. Auch das Zustandekommen der
Stichproben, also die Aktivierung von kooperierenden Schulen, sei eine große Herausforderung. Befragungstools seien in vielen Sprachen
aufgesetzt worden, um die mehrsprachigen Eltern zu erreichen.
Die Ergebnisse der Studie werden an den Auftraggeber, die beteiligten Lehrkräfte und Eltern kommuniziert sowie in der
wissenschaftlichen Community.
Beitrag von Frau Daniela Krämer
Frau Krämer bot in ihrem Vortrag die Perspektive der Bildungsberichterstattung Baden-Württemberg an und verweist darauf, dass
am IBBW dazu keine eigenen Daten erhoben, sondern amtliche Daten zusammengetragen und ausgewertet würden.
In den Statistiken seien bisher unterschiedliche Definitionen des Migrationshintergrundes zur Anwendung gekommen. Sie vertritt den
Standpunkt, dass die Definition des Migrationshintergrundes so umfassend wie nötig und so eng wie möglich gehalten werden
müsse. Dadurch soll eine „Hinausdefinition“ von betroffenen Bevölkerungsgruppen vermieden werden und gleichzeitig
sollten nur jene eingeschlossen werden und sichtbar werden, bei denen sich zumindest grundsätzliche Förderbedarfe feststellen
ließen. Des Weiteren stellte Frau Krämer am Beispiel von Daten des Jahres 2021 den Informationsgehalt des Merkmals
„Migrationshintergrund“ in Frage, wenn bereits mehr als ein Drittel der Bevölkerung in Baden-Württemberg einen
Migrationshintergrund nach der dort verwendeten Definition aufwiesen.
Außerdem macht Frau Krämer im Zusammenhang des IQB-Bildungstrends 2021 deutlich, dass sich Disparitäten im Bildungserfolg
vielfach durch sozioökonomische Faktoren erklären lassen und der Migrationshintergrund nicht alleine die ausschlaggebende Rolle
spielt.
Anschließende Diskussion
In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass davon ausgegangen werden muss, dass sich viele migrantische Personen in statistischen Verfahren und Ergebnisdarstellungen nicht abgebildet und ihre Bedarfe nicht adressiert sehen, so z.B. gut ausgebildet nach Deutschland kommende Personen, die keine Sprachförderung benötigen, sondern etwa berufliche Anerkennung. Es sei notwendig diese Heterogenität zu berücksichtigen und bei der Entwicklung von Studien Zielgruppen zu beteiligen. In der Besprechung der IQB-Studie 2021 und in ihren Aussagen über Personen mit Migrationshintergrund stellte Prof.‘in Dr. Rauch klar, dass die Studie zunächst einmal dem deutschen Bildungssystem ein schlechtes Zeugnis ausstelle und nicht den Lernenden. Man solle aus den Ergebnissen nicht so sehr Rückschlüsse auf die Leistungen dieser Gruppe ziehen, sondern auf das Bildungssystem, das Disparitäten vergrößere statt sie zu verkleinern.